Text: Jörg Krauthöfer / Fotos: Nicole Krauthöfer
Die Wasserstraßen rund um die kleine Stadt Zehdenick, 50 Kilometer nördlich von Berlin gelegen, sind in den Sommermonaten fest in der Hand von Paddlern, Kanuten und motorisierten Freizeitkapitänen. Bootegucken in Zehdenick hat dann Tradition Doch auch für Landratten hat die kleine Gemeinde so einiges zu bieten. Man muss sich nur aufmachen und den wilden Osten erkunden.
Es ist soweit. Die Ampel steht nicht mehr auf Rot und so langsam kommt Bewegung in den Schleusenkanal. Ein Boot nach dem anderen nimmt Platz in der großen Schleusenkammer. Wir stehen auf der Schleusenbrücke und beobachten nervöse Freizeitkapitäne, die im Sekundentakt den fachgerechten Sitz sämtlicher Bootsleinen prüfen, die die jeweiligen Gefährte vor dem Kentern schützen sollen. Zwischen großen Pötten, Hausflößen und Luxusyachten warten kleine Paddelboote, deren Kapitäne kaum das Ende der Schleuserei erwarten können. Zu bedrohlich wirkt der Größenunterschied zwischen all den Fahrzeugen.
Dann schließt sich die Kammer und in minutenschnelle wechseln tausende Liter Havelwasser den Ort. Täglich von sieben bis 21 Uhr passieren Schiffe diesen Knotenpunkt und machen die Schleuse Zehdenick zu dem zentralen Mittelpunkt der Kleinstadt. Bevor wir Richtung Norden zum Ziegeleipark Mildenberg aufbrechen, genießen wir brandenburgisches Kleinstadtfeeling – einen schönen Marktplatz, ein historisches Rathaus, umgeben von niedrigen Häuschen.
Zehdenick liegt auf der Grenze von Uckermark und Ruppiner- und Schorfheide, gehört heute zum Landkreis Oberhavel und nennt sich „Havelstadt“ – denn die hat die Stadt geprägt. Vor seiner ersten urkundlichen Erwähnung 1216 war Zehdenick ein Fischerdorf, berühmt wurde es durch sein Kloster. Ein sogenanntes Hostienwunder aus dem Jahr 1249 führte zur Gründung des Ordens der Zisterzienserinnen. Der Legende nach soll eine Geschäftsfrau eine geweihte Hostie in Wachs gegossen und in einem Bierkeller vergraben haben. Sie versprach sich mit Gottes Hilfe wohl erhöhten Getränkeumsatz. Die Sache kam raus, es gab eine auferlegte Beichte und die kirchliche Anordnung, den Frevel umgehend rückgängig zu machen. Beim Ausgraben von Hostie und Bierfässern blutete jedoch an einigen Stellen die Erde – Zehdenick wurde zum Wallfahrtsort. Ein Jahr später folgte die Gründung des Ordens, das Jungfrauenkloster nahm den Betrieb auf. Markanter Punkt auf dem Klostergelände ist heute die Ruine der einstigen Kapelle. Ein Blitzschlag zerstörte sie um 1801.
Die Zugbrücke funktioniert wie der Tower in London
Unten an der Havel ertönt in regelmäßigen Abständen ein Signalton. Dann kommt Bewegung in das kleine Städtchen und Menschen eilen an die historische Zugbrücke, die zwei Stadtteile Zehdenicks miteinander verbindet. Die Hastbrücke ist eine Doppelzugklappbrücke und arbeitet nach dem gleichen Prinzip wie die Tower Bridge in London. Regelmäßig öffnen sich die beiden Brückenklappen, und Segelschiffe sowie große Motorjachten können dann unter den Augen zahlreicher Beobachter die Engstelle passieren.
Industrielle Berühmtheit erlangte Zehdenick durch die Entdeckung großer Tonvorkommen. Mehr als 100 Jahre entlang brannten unzählige Ziegeleien entlang der Havel Baumaterial unter anderem für den Häuserbau in Berlin. Der Ziegeleipark Mildenberg, Ziel unseres Ausflugs, gilt als das Industriedenkmal des Tonabbaus in der Region.
Nach Mildenberg kommt man auf vielen Wegen. Sieben Kilometer sind es auf dem Radweg entlang der Havel in Richtung Norden. Der kürzeste, aber von der Zeit her längste Weg führt direkt über die Havel. Von der Schleuse Zehdenick geht es über die Kamelbrücke und dann immer der Nase entlang. Von der gegenüberliegenden Seite grüßt das alte Havelschloss. Wie ganz Zehdenick fiel es im dreißigjährigen Krieg einem großen Stadtbrand zum Opfer, wurde später wieder aufgebaut und als Wohnhaus genutzt. Ab 1927 war es Jugendheim, später Arbeitsdienstlager, dann Internat und Seniorenheim. Heute kann man im historischen Kellergewölbe heiraten. Weiter geht es entlang der Havel in Richtung Ziegeleipark.
Dem Baurausch und der Industrialisierungswut des 19. Jahrhunderts verdankt Zehdenick heute eine einmalige Wasserlandschaft. Wie auf einer Perlenkette aufgereiht liegen bis nach Burgwall kleine Seen rechts und links der Havel. Manche sind durch einen Kanal mit dem Hauptstrom verbunden. Andere haben sich autark zu einem Naturparadies entwickelt. Es sind ehemalige Tonstiche, also Fördergruben mit Namen wie Gartenzwergstich, Germaniastich, Konsumstich oder Faulhaberstich. Sie haben sich im Laufe der Zeit mit Wasser gefüllt und sind jetzt Rückzugsorte für Tiere und selten Pflanzen sind. Streng geschützt natürlich.
Während die Freizeitkapitäne, sei es mit Motor- der Muskelkraft, dem Lauf der Havel folgen, sind Fahrradfahrer auf dem Weg nach Mildenberg auf einem Teilstück des internationalen Radweges Berlin-Kopenhagen unterwegs. 650 Kilometer ist diese Fahrradstrecke lang, unterbrochen von einer kurzen Seereise über die Ostsee von Rostock nach Gedser. Von Zehdenick aus gesehen ist aber bereits nachsieben Kilometern Schluss. Das Industriedenkmal Mildenberg mit seinem Yachthafen erwartet uns. Der kleine Hafen am Ziegeleipark bietet einen außergewöhnlichen Mietservice.
Mit dem Camper aufs Floß
Auf besonderen Flößen für Wohnmobile können zahlungskräftige Kunden auch ohne Bootsführerschein die brandenburgischen Gewässer unsicher machen. Mit dabei ist dann immer das eigene Campingmobil. Hier treffen wir Vera und Holger aus Schwaben. Etwas nervös stehen die beiden mit ihrem Kastenwagen
am Anleger. Eine Woche wollen beiden auf dem Wasser unterwegs sein, in Richtung Müritz. Zuvor aber muss noch das teure Wohnmobil langsam über eine Rampe gefahren und dann auf dem Floß ausgerichtet werden. „Wir haben das schon mal gemacht“, sagt Vera. Aber es sei auch beim zweiten
Mal viel Nervosität dabei. Während die zukünftigen Skipper ihr Domizil verfrachten, sind wir weiter auf
historischem Boden unterwegs.
Hier rauchen keine Schornsteine mehr
Die Schornsteine rauchen hier schon lange nicht mehr. Die Gleisanlagen der zahlreichen Feldbahnen sind mit Gras überwuchert. 5000 Menschen produzierten jahrzehntelang jährlich mehrere hundert Millionen Ziegel. Die gingen, man ahnt es, in die wachsende
Stadt Berlin. Ganze Straßenzüge in Schöneberg, Charlottenburg, Prenzlauer Berg oder Wedding
bestanden oder bestehen noch aus Mildenberger Ton. Der Hunger Berlins nach dem beliebten
Baumaterial hielt lange an. Bis 1991 westliche Investoren keine Zukunft für die Branche sahen und die Tore dichtmachten. Heute dürfen Kinder spielerisch Tonziegel herstellen oder sich die alten Produktionsmethoden erklären lassen.
In regelmäßigen Abständen ertönt lautes Pfeifen durch die Lüfte. Dann nämlich rattert eine alte Feldbahn mit umgebauten Loren und vielen glücklichen Menschen an Bord über das Gelände am Ufer der Havel oberhalb von Zehdenick in der Uckermark.
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